Tübingen, 27. Dezember 2019
In der Nacht vom 26. auf den 27. Dezember 2019 haben wir die Dunkelheit der Morgenstunden genutzt, um zwei Tübinger Ticketautomaten der Deutschen Bahn (DB) an den Stationen West und Derendingen anzugreifen. Diese Aktion folgte auf einen Testlauf im Juli diesen Jahres, wo der Automat in Tübingen West bereits einmal unschädlich gemacht, inzwischen repariert worden war und nun, zusammen mit einem zweiten, erneut angegriffen wurde.
#Wie
Im Juli hatten Menschen sich zum ersten Mal den Ticketautomaten Tübingen West mit Hammer, Nägeln und Farbe vorgenommen, wodurch der Automat unbenutzbar war. Daraufhin wurde er repariert und wir haben nun den reparierten Automaten und einen weiteren in Tübingen-Derendingen, erneut angegriffen – bei ersterem mit Brennpaste und Anzündwürfel das Tastenfeld für Kartenzahlung mit Feuer beschädigt, bei zweiterem die Schlitze für Geld und Geldkarten mit Sekundenkleber verklebt sowie Display, Automatennummer und Rufnummer mit Sprayfarbe verdeckt.#Warum militante Aktionen dieser Art
Anders als bei vielen anderen Aktionen passiert mit der Beschädigung oder Zerstörung von Ticketautomaten ein direkter Effekt auf den Alltag von Menschen, deren konformes Handeln damit unterbrochen wird – Menschen, die normalerweise ein Ticket kaufen würden, müssen mal ohne Ticket fahren, ohne dabei aber Repressionen befürchten zu müssen. Alle, die für den Zeitraum, in dem der betreffende Ticketautomat kaputt ist, normalerweise dort ihr Ticket bezahlen müssten, um z.B. zu ihrer Lohnarbeit zu kommen, werden so selbst zu Fahrer*innen ohne Ticket und machen möglicherweise die Erfahrung, dass das gar nicht so schlimm ist. Dass Leute so an Ungehorsam herangeführt werden und kurz erleben, was wir wollen – öffentliche Mobilität kostenlos, unabhängig von Vermögen/Klasse – während dabei denen, die aktuell daran Profit machen (die Fahrgesellschaft bzw. der Staat) Gewinn entgeht und Reparaturkosten anfallen, macht diese Aktionsform für uns so effektiv und gerechtfertigt. In Tübingen gibt es unserer Meinung nach zu wenige direkte Aktionen. Bannerdrops, Flyer verteilen, Sprayen gehen, eine Demo organisieren – das sind alles wichtige Aktionsformen, aber alle haben keinen wirklichen direkten Effekt im Alltag der restlichen Menschen. Daher würden wir gerne mehr Aktionen sehen, die die bisherige Aktionsroutine erweitern und aufbrechen können. Für mehr kreative direkte Aktion!#Wieso
Wir befinden uns in einer Zeit, in der das Wissen um Umweltzerstörung und Klimakrise unanzweifelbar im Raum steht, allgemeine Handlungsnotwendigkeit und auch Einiges, was getan werden müsste, bekannt sind – und dennoch passiert bei Weitem nicht genug.
Wir müssen Emissionen jetzt und hier einsparen und können es uns nicht mehr leisten, dass Menschen, ganz besonders in größeren Städten, in denen notwendige Infrastruktur vielleicht auch schon existiert, allein in großen Autos fahren, im Stau stehen, und die Luft weiter verschmutzen. Es ist eine Absurdität, dass das Wissen um Klimakrise weit verbreitet und und auch in der staatlichen Politik in aller Munde ist, aber ganz offensichtliche, konkrete Maßnahmen wie die kostenlose Nutzbarkeit von ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr)- welcher ja für viele Menschen sogar notwendig ist, um in diesem System zu funktionieren, z.B. sich zwischen Arbeitsplatz und Wohnort zu bewegen – nicht getroffen werden. Wir brauchen gut ausgebauten und für alle verfügbaren, also z.B. kostenlosen (Nah-)Verkehr in öffentlicher Hand. Doch wider allen Wissens geht der Trend eher in Richtung Preiserhöhungen und Privatisierung von ÖPNV, sowie Subventionierung, Forschung in und Ausbau von Individualverkehr, z.B. („ökologischere“) Autos oder E-Scooter. Es ist also zwingend notwendig, dass wir die Entscheidungsmacht darüber gewinnen, welche Maßnahmen zur Rettung des Klimas durchgeführt werden müssen.#Mobilität als Grundrecht
Bewegungsfreiheit ist ein Grundrecht – daher darf Mobilität für viele Menschen nicht strukturell, also entlang von Herrschaftsachsen wie Klasse/Vermögen, weniger zugänglich sein. Dies ist aber der Fall, wenn Mobilität a) (viel) Geld kostet und b) in verschiedenen Regionen verschieden ausgebaut ist:a) Aktuell ist zur Straftat erklärt, fürs Mobilsein nicht zahlen zu können, und die Nutzung der existenten Verkehrsmittel ohne Ticket kann sogar mit Knast (Ersatzfreiheitsstrafe) oder Abschiebung enden. Vom „Nulltarif“ würden also direkt ärmere und unterdrücktere Bevölkerungsschichten profitieren, denen Mobilität entweder strukturell verunmöglicht oder deren Nutzung kriminalisiert wird. Stattdessen wären die Menschen nicht mehr gehindert, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, weil ihnen das Geld fehlt, sich frei(er) zu bewegen. Kostenlose Mobilität ist daher ein wichtiger Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit.
b) Der Ausbau von ÖPNV-Netzen kann außerdem dafür sorgen, dass Menschen, die in ländlichen, strukturschwachen Regionen leben, wo – wenn überhaupt – nur zweimal am Tag der Bus fährt, besser angebunden werden könnten, und nicht mehr auf ein Auto angewiesen wären. Der Ausbau des ÖPNV-Netzes in solchen Regionen hat auch das Potential, der Landflucht und resultierender Überfüllung von Städten und Ballungszentren entgegenzuwirken.
Die Beschäftigung mit diesem Thema bringt uns notwendigerweise auch auf kapitalistischen Wachstumszwang und Straflogik – denn Gehorsam und staatliches Strafen auch und gerade in solch „kleinen“ Fällen dienen der Sicherung der staatlichen Autorität allgemein; sie verlaufen entlang von Achsen der Ungleichheit und verschärfen diese, z.B. soziale Ungleichheiten, dabei weiter. Eine Entkriminalisierung des ohne Ticket-Fahrens ist daher ein wichtiger Startpunkt, allerdings ist unsere Perspektive dabei eine klar abolitionistische. Das eigentliche Problem ist nicht, dass ohne Ticket-Fahren eine Straftat ist, sondern dass ein Herrschaftssystem wie der Staat festlegen kann, was verboten ist und was nicht – entlang von staatlichen und kapitalen Interessen. Denn es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass arme unterdrückte Mensche die sind, die am meisten unter der Kriminalisierung von freier ÖPNV-Nutzung leiden. Denn in unserer Gesellschaft werden Grundbedürfnisse wie Mobilität an finanzielle Ressourcen geknüpft und so Armut und Unterdrückung weiter verschärft und an sich kriminalisiert. Daher wollen wir weiter gehen als eine Entkriminalisierung des Ticketfrei-Fahrens. Wir wollen die Kriminalisierung des Arm-Seins überwinden und auf eine Welt hinarbeiten, in der keine Menschen im Knast sitzen, weil sie kein Geld für ein Zugticket hatten.
Und: Selbst aus kapitalistischer Effizienzlogik betrachtet sind Fahrkahrten ein Reinfall: Die Einnahmen aus Fahrkarten müssen zu einem guten Teil (min. ein Fünftel) für das Fahrkartenwesen selbst – Fahrkartenverkauf, Automaten, Kontrolle und Werbung – ausgegeben werden und sind so ziemlich ineffizient.#Wem gehört die Stadt?! Was für eine Mobilität tut Bewohner*innen der Städte gut?
Automobilität? (Eigentlich) Keine Option.
Die weitere Förderung und Akzeptanz von motorisiertem Individualverkehr, insbesondere Automobilität, kann aus vielerlei Gründen kritisiert werden – auch etwa, weil es sie nur für Menschen gibt, die fahren können, dürfen und sich ein Auto leisten können.
Der Autoverkehr in Städten macht diese durch Abgase und Lärmbelastung weniger lebenswert, außerdem gehen unglaublich viele Flächen durch Parkplätze und Parkhäuser verloren. Auch werden unsinnigerweise weiterhin neue Straßen und Autobahnen gebaut, für die wertvolle Natur zerstört und oft auch Wohngebiete auseinandergerissen und direkt mit Abgasen und Lärm belastet werden. Insgesamt erfordert Straßen(aus)bau Flächenversiegelung im großen Stil, wodurch Flächen für Wasseraufnahme und Grünflächen verloren gehen – alles entgegen dem, was alle Menschen sich wünschen und ihnen gut tut: saubere Luft, Ruhe, lebenswertere (Innen-)Städte, geschützte Wohngebiete und Natur.#Sonstige Alternativen und größerer Rahmen
Um diese Ziele zu erreichen, gibt es viele Alternativen für soziale und umweltverträglichere Mobilität für alle, etwa Fahrräder, Fläche für „grüne“ Verkehrsmittel statt für Autos, autofreie Städte, und eben Ausbau von Schienenverkehr/ÖPNV zum Nulltarif, der es ermöglicht, dass Menschen großteils auf ÖPNV als Verkehrsmittel umsteigen. Allerdings muss uns dabei auch bewusst bleiben, dass es keine grüne Lösung für das Übermaß an kapitalistischer Mobilität gibt und mit dem Ausbau von ÖPNV und der vermehrten Nutzung von Fahrrädern, das Problem nicht allein lösbar ist. Die Logiken globaler Warenströme statt lokal vernetzter Produktion, die Notwendigkeit des immer weiter gehenden untragbaren Wachstumdogmas im Kapitalismus und allgemein die Orientierung an Profit statt an den Bedürfnissen der Menschen, müssen genauso überwunden werden. Sonst verkommt ein wichtiger Schritt, kostenloser ÖPNV, zu wenig mehr als Augenwischerei.In Tübingen können wir zwar derzeit samstags ohne Ticket fahren, aber das ganze Geld für Ticketautomaten, Kontrollen, etc. wird trotzdem noch benötigt. Und es ist schon ironisch, dass mit dem Samstag ermöglicht wurde kostenlos zum Shoppen zu fahren, statt unter der Woche Menschen die notwendige Mobilität zu Arbeit, etc. zu ermöglichen, die es braucht, um in dieser kapitalistischen Gesellschaft zu überleben. Andererseits auch nur konsequent, denn wenn Profit über allem steht, macht es auch nur Sinn weiteren Konsum und damit Profit zu fördern. Uns ist der Samstag nicht genug, er scheint viel mehr wie ein weiteres grünes Feigenblatt, dass den rechten Hetzer Boris Palmer und die angebliche Ökostadt Tübingen gut aussehen lassen, während eigentlich alles wie immer weiter geht. Daher wollen wir die Frage zu kostenlosem Nahverkehr selber in die Hand nehmen und beginnen Ticketfrei-Fahren praktisch umzusetzen. Kein Automat, kein Ticket, kein Problem!
Wir fänden toll, wenn andere Menschen oder Gruppen diese Aktionsform ausprobieren und selbst anwenden würden. Weitere Aktionsideen zu dieser Thematik wären z.B. das Fahren ohne Ticket als Aktion oder das Bekleben von Automaten, dass diese kaputt wären. Das Angreifen von Ticketautomaten können wir für Aktionen empfehlen, weil sie so effektiv, aber je nach konkreter Aktionsform recht niedrigschwellig und Automaten fast in allen Orten zu finden sind. Zu beachten sind Videoüberwachung an einigen Flächen der DB (z.B. Gleise an größeren Bahnhöfen, Bahnhofsgebäude) durch Vermummung, Aktionskleidung und Verschleierung der Körperform, das Nichtentdecktwerden durch gute Wege und das Checken der Fahrpläne sowie das Nicht-Zurücklassen von Gegenständen sowie Fingerabdrücken und ggf. Spuren am Aktionsort mithilfe von (Arbeits- und Einmal-)Handschuhen und das Säubern von Aktionswerkzeugen von Abdrücken und ggf. mit Aceton (teilweise) von DNA. Zu beachten sind die gesonderten Straftatbestände für Brandanschläge. Viel Spaß!
Quelle: Indymedia (Tor)