Manchmal ist es ein kleiner Zufall, welcher den Lauf der Dinge beeinflusst. Niemand hätte es vorher gedacht, am wenigsten die Akteure selbst in diesem Moment. Aber vielleicht fühlten sie das was sie gerade tun, größere Ausmaße annimmt, wer weiß. Hätten die wenigen Aktivisten am Arrivati Park auf dem Pferdemarkt in Sankt Pauli am frühen Freitag Nachmittag gedacht, was sie auslösen, ob sie es getan hätten? Vermutlich waren sie einfach nur noch frustriert von endloser Polizeigewalt, von ständigen Schikanen, von dem seit Tagen unablässigen andauernden Lärm der Hubschrauberrotoren, dieses endlose, nervende, sich in den Kopf einbrennende Geräusch. Vielleicht haben die „yellow press“ Vertreter mit ihrer Bürgerkriegsrhetorik doch recht, aber so scheint uns die Dystopie eines tatsächlichen Bürgerkriegs, live an zu schauen im nahen Osten, hier völlig vermessen, wenn jedoch am ehesten durch das ständige knattern der Rotoren versinnbildlicht.
Aber erlebt haben sie noch keine Bürgerkrieg.Doch zurück zu jenem Arrivati Park, der Dauerkundgebung, als Rastplatz gedacht, um den Aktivist*innen einen Ruheraum zu geben. Diesen darf es nicht geben, folglich stellt die Polizei wie immer einen ihrer Wasserwerfer bereit. Niemals darf sich jemand ungestraft oder gar unbeobachtet versammeln, und doch ist es die hilflose Geste der bereits aus dem Ruder laufenden Situation. Seit Tagen nun schon steigert sich das übliche, nur maximierte, politische Schaulaufen welches wir alle kennen. Gestern haben die Bullen die Demonstration am Fischmarkt zerschlagen; Chaos, Barrikaden, Glasbruch und endlose umher streifende Banden waren die Folgen. Seit fast 24 Stunden nun bewahrheitet sich das Versprechen der organisierten Autonomen, der Aktivist*innen: wir werden die Stadt lahmlegen, wir werden überall angreifen, unkalkulierbar. Entsprechend am Ende sind die Kräfte der öffentlichen Ordnung. Ihr Versprechen ist den Gipfel zu schützen. Dafür benötigen sie Unmengen an Material und Personal. Ihre Kräfte langen bei weitem nicht für den gesamten urbanen Raum von Hamburg. Dies zeigte sich bereits Donnerstag Abend, doch erst recht Freitag früh. Hier rechneten die Bullen mit Leuten an der Messe, schließen sich ein in ihrer Burg, nicht kalkulierend das die Menschen auch woanders angreifen würden. Beeindruckend der Mut der Kämpfenden am Morgen, noch beeindruckender die Menge der Kämpfenden zur zweiten Welle. Selten klappt die Vermittlung, das Zusammenspiel der verschiedenen Kräfte so gut wie in diesen Tagen.
Doch nun hier, am Arrivati Park, gehen wieder ein paar gegen die Provokation der Bullen vor, sie wagen es, stellen sich auf die Straße, vielleicht wirft auch jmd. eine Flasche gegen den Wawe. Banalität und völlig egal zu dieser Zeit. Die Bullen antworten wie immer, der Wawe spritzt die Leute von der ohnehin gesperrten Straße, obendrauf gibt es wieder 2 Ladungen Richtung Kundgebung, als kleine Dreingabe sozusagen. Doch irgendwer anderes steht auch hier, und schiebt eine Mülltone auf die Straße, also mehr Wasser, mehr Knüppel. Und irgendwo steht der RT livestream.
Es ist früher Abend, völlig erschöpft vom stundenlangen Kämpfen fallen wir in das Appartement. Wir kommen direkt aus dem Riot, müssen kurz verschnaufen. Schauen aus dem Fenster, der Wasserwerfer heult auf und spritzt, wahllos, Passanten an. Hier sitzen Leute auf dem Sofa, und schauen irgendeinen livestream. Er zeigt den Pferdemarkt, ein paar Leute kippen Mülltonnen auf dem Schulterblatt. Wir legen uns kurz hin und essen. Nach 30 Minuten Schlaf schauen wir uns auch den livestream an: Am Schulterblatt werfen Leute Flaschen von verschiedenen Seiten auf Bullen, der Wasserwerfer spritzt in alle Richtungen, die Stimmung steigt. Scheiß auf die Demo, wir gehen raus auf die Straße. Um uns herum laufen Dutzende, jede Kreuzung werden es mehr. Bald laufen Hunderte in Richtung Schulterblatt. Es ist die absurde Metaebene unserer Zeit. Du kämpfst, kannst aus dem Fenster Leuten beim kämpfen zu schauen, und du wie Millionen andere sehen im Fernseher dich und andere kämpfen. Und so kommt es das neben uns hunderte, tausende zur Schanze strömen.
Dort, Menschen und Feuer auf der Straße, beginnt das, was wir in Deutschland noch nie erlebt haben. Wir, die jung geborenen, hatten keine solche Erfahrung. In der Schanze, ändert sich das, was wir Politik nennen, unsere Identitäten, unsere Aktionen, in etwas, was wir vielleicht am ehesten als öffentliche Verschwörung /public conspiracy beschreiben können. Es ist kein Aufstand, aber kurz davor. Es ist eine Rebellion, ein Aufruhr, gestartet und verteidigt von jenen „uns“, den klassischen Aktivist*innen die wir seit Tagen in der Stadt unterwegs sind. Doch weiter getragen wird jene Rebellion von all jenen, welche angelockt wurden vom Spektakel und der Selbstbestimmung. Dieser Teil der Gesellschaft, lange abgeschrieben von selbiger, angelockt von der Verheißung gegen die Bullen zu kämpfen. Und das ist was hier passiert. Begonnen als Gipfel-Protest gegen G20, wird dies zur sozialen Revolte gegen die Bullenschweine, zur sozialen Rebellion. Im Schein der Feuer ist wieder alles möglich. Das Gefühl der Riots, Selbstbestimmung erfahrbar für so viele mehr. Nicht bruchlos, doch niemals so nah erfahrbar wie in diesem Moment.
Wir halten das Schulterblatt. Das Zusammenspiel verschiedener Faktoren (das Konzert der Irren zu schützen, zu wenig Kräfte, angeblich die Leute auf Dach und Gerüst, die stärker werdende Mischung von „uns“ und allen anderen, führt dazu, das dieses Viertel für mehrere Stunden unregierbar ist.) Unkontrollierbar. Zeit für kleine Mädchen sich Getränke im Rewe zu besorgen. Zeit, das einige Atzen versuchen sich bis zur Geldkassette der Haspa hindurch zu arbeiten. Zeit, die wir nur bedingt genutzt haben.
Es löst sich jenes “uns” und “die” auf. Nicht widerspruchslos. Nicht einwandfrei. Aber stärker und größer als wir es jemals in Deutschland dieser Zeit zu hoffen, zu träumen gewagt hätten. Im Kampf um die Barrikaden, im gemeinsamen Teilen des Sekts gibt es erst mal keinen Unterschied mehr. Die Verachtung für die Autoritäten ist in allen Augen zu sehen. Alle machen mit. Du musst nicht seit Monaten auf irgendwelche Plena rennen, die dies und jenes absprechen und wieder verwerfen. Du musst nur auf das Telefon oder den TV schauen, kommen und mitmachen.
Dieser Moment ist das Große in Hamburg. In diesem Moment bekommt das Treffen der Irren endgültig keine Aufmerksamkeit mehr. Es geht um den sozialen Konflikt der offen zu Tage tritt. Der aufgestaute Hass auf die Bullen, bei immer größeren Teilen der Bevölkerung, ein Leben lang genährt, eine Woche lang angestachelt, bricht sich Bahn. Die Verelendung. Das Gefühl, nein das Wissen, dass diese Gesellschaft nichts mehr zu bieten hat. Das wir uns holen müssen was uns sowieso gehört.
Der Rewe spendiert. Alles allen, allen alles!
Auch wenn wir für ein paar Stunden das Gefühl hatten, ein Aufstand war es noch nicht. Dafür war unser Vorgehen zu planlos, zu abhängig von Zufällen auf allen Seiten. Nicht gewollt von allen Leuten. Ihr liebe Lesenden, der Großteil ist nicht bereit für einen Aufstand. Zuviel Angst vor der eigenen Konsequenz, wie wir bei manchen Leuten sehen. Es ist in Ordnung. Angst gehört dazu. Hoffen wir das wir eines Tages mehr Mut als Angst haben werden.
Und viel lernen müssen wir noch. Unsere Kräfte besser einteilen. Strategischer denken wenn wir tatsächlich ein Gebiet, ein Territorium verteidigen wollen. Absehbar war das die Bullen nicht ausreichend Kräfte haben, beschäftigt das Konzert zu schützen. Erst danach gibt es genug zum Eingreifen. Aber nicht genug um alles andere zu kontrollieren.
Wir hätten stärker Richtung Bullenwache, Richtung Stresemannstraße, drängen müssen. Das Areal erweitern, das Potential der Ansammlung nutzen. Es scheint uns absurd wenn sich nun Leute beschweren, dass in der Schanze sexistische Parolen gerufen wurden. Als wenn wir keine Sexisten wären, auch wenn wir das Gegenteil behaupten, und auch versuchen. Der Rest der Menschen ist es noch weniger. Aber es steht uns allen frei zu diskutieren, uns zu beschweren, zu intervenieren und agieren. Wir können nicht erwarten das Menschen in einer solchen Situation „perfekte Revolutionär*innen“ wären. Aber wir können erklären das die Bullen keine „Fotzen“ sind, oder gar deshalb Scheiße, sondern Scheiße weil sie Bullen sind. Wir können und haben vielen erklärt, das Flaschen nicht aus 60 Meter geworfen werden sollten, sondern die Leute nah ran gehen müssen, sonst verletzen sie uns selbst. Fast alle haben das direkt verstanden. Dafür haben so unglaublich viele Menschen Flaschen geworfen, so dass wir sogar bereit sind, sie kurz über unseren Köpfen zerschellen zu spüren. Das nächste Mal dann eben mit Helm.
Haben wir früher gelacht als die Alten erzählten wie man beim Plündern als erstes den Schnaps zerschlägt. Unvorstellbar. Heute wissen wir es besser, das nächste Mal gibt es nur noch Sekt und Bier, keine Volltrunkenen mehr die Feuerlöscher in die brennenden Barrikaden werfen.
Wir haben wenig Erfahrungen, wir müssen besser werden. Die Barrikade 3 Meter vor dem alten Auto der Anwohner*innen bauen, nicht nebenan. Dies kann später den Unterschied zwischen Sympathie und Ablehnung machen. Wir werden weiter keine bewohnten Gebäude anzünden und sowas unterbinden, sofern in unserer Macht stehend.
Doch geplündert wurde nahezu ausschließlich in Ketten, Läden welche sich mit den Protesten solidarisierten wurden ausnahmslos verschont oder verteidigt. Wir können nur den Freundinnen von Crimethinc zustimmen: „Next time people open up a police-free zone, let’s fill it with the lives we all deserve.“
Und an die bellenden Hunde: „Some have criticized the rioters who barricaded the Schanze district and drove out the police for hours as being “apolitical,” engaging in “mindless chaos.” On the contrary, nothing is more political than creating such a space like this, in which we may once again become the protagonists of our own social and political lives rather than letting the authorities impose their order on us. „
Das nächste mal werden wir besser. Erfahrungen machen, scheitern, nachdenken, wieder probieren, besser scheitern. Dieses mal war schon ganz gut.
Wir laufen nach Hause. Unterwegs ein Kiosk, Bier. Eine Hundertschaft bayrischer Bullen hält auf der Kreuzung. Orientierungslos, fertig. Und die ganze Kreuzung ruft: „Ganz Hamburg hasst die Polizei“. Diese Einheit würde sich normalerweise nicht mal eine Schmähung gefallen lassen. Hier werfen alle Kronkorken, Tabak, Müll. Leute stellen sich vor die Bullen, beschimpfen diese: Haut ab, geht zurück nach Bamberg. Die Bullen ziehen ab, weiter, irgendwo hat ihr Chef gesagt brennt es gerade mehr. Unser Sitznachbar, erklärt uns das er 5 Sprachen spricht, aber hier nie willkommen war. Nun zeigt er uns sein Handyvideo, er beim Flaschen werfen..
Wir stoßen gemeinsam an und verabschieden uns mit dem Hinweis, sich immer gut vermummen.
Aufstehen, ausprobieren, scheitern. Nachdenken, wieder aufstehen, ausprobieren, besser scheitern.
Diesmal war schon ziemlich gut. Bis zum nächsten Mal!
Die unsichbaren Freunde
Quelle: Linksunten